Texte Kunst & Kultur

Galerie Oberwelt. Literaturwissenschaftliche Reihe „Reflexe“, 2015, 2016, 2017

Reflexe reloaded. Wir denken Weltliteratur neu. Assoziativ, experimentell, prall. Wir klopfen Akademikerstaub ab und stürzen uns Hals über Kopf in die Buchseiten. Papier rauscht, die Worte tanzen, die Macht der Sprache verrückt uns den Kopf.

 

Galerie Oberwelt, Stuttgart: Literaturwissenschaftlicher Vorträge von Annik Aicher in der Neuauflage der Reihe “Reflexe” zu Jeremias Gotthelf, Die Schwarze Spinne (1842), Irmgard Keun, Das Kunstseidene Mädchen (1932), Herta Müller, Reisende auf einem Bein (1989). Performance: Susa Ramsthaler. www.oberwelt.de, Menüpunkt Archive/Chronology

 

Literaturautomat 2016

Was macht ein Oktopus im Swinger-Club? Diese Frage beantwortet eine Kurzgeschichte von Annik Aicher, die Oktober/November 2016 in den Literaturautomaten in Dresden, Leipzig, Düsseldorf, Wuppertal, Bochum und in Stuttgart im Merlin, Augustenstraße 72, steckte. www.literaturautomat.eu

 

Extrablatt, Stuttgarter Zeitung 21. Februar 2013

 

 

 

 

 

 

Über den Twitterkontakt ihres Netzwerks zur Schriftstellerin Sybille Berg war Annik Aicher 2013 Teil des “Extrablatts” der Stuttgarter Zeitung mit Lesung im Literaturhaus Stuttgart.

 

Katalogtext zu Monika Schneiders Ausstellung “Notstop Looking” im Saarländischen Künstlerhaus Saarbrücken.

 

Vernissagenrede zur Ausstellung Julia Wenz & Le Jeune – Per Diems

Stadtbibliothek, 14. März 2013, Graphothek
Wenn ich eine gute Buchhalterin wäre, wäre meine Rede jetzt schon wieder zu Ende. Denn wie ich festgestellt habe, ist mein Salär, das ich für diesen Abend bekomme, bereits aufgezehrt. Mein Zeitkonto ist überschritten. Durch die Anfahrt zur Stadtbibliothek, das Suchen nach den Aufzügen, das Warten auf die Aufzüge, die Fahrt in den 8. Stock, das Künstlervorgespräch, die Sichtung der Kunstwerke.

Soll und Haben. Ich soll eine Rede halten, habe aber gar kein Geld mehr dafür übrig.
Was jetzt folgt, ist quasi auf ehrenamtlicher Basis entstanden – wie so oft in der Kunst.
Da ich aber eine schlechte Buchhalterin und eine begeisterte Kunstfreundin bin, ist es mir eine Freude und Ehre, etwas zu den Werken von Julia Wenz zu sagen!

Es gibt ja mittlerweile schon T-Shirts, auf denen steht: „Nein, ich habe keine Payback-Karte!“. Oder vielleicht gehören Sie gerade zu denjenigen, die begeistert Treuepunkte sammeln, Herzchen, Gutscheincodes oder andere Rabattmarken. Und Sie fragen sich manchmal, ob es clever war, wenn man so viele Socken gekauft und nachher nur eine olle Bratpfanne dafür gekriegt hat. Vielleicht haben Sie auch schon im Internet nach Schuhen geschaut und bekommen jetzt immer, wenn Sie eine Seite öffnen, ein Schuh-Karussell von Zalando zu sehen, das sich lustig dreht. Oder Sie haben, wie ich neulich, nach bedruckten Fotohockern recherchiert und es tauchen jetzt bei Ihnen auf dem Bildschirm Anzeigen von Wintermützen mit Bart auf.

Die Konsumwelt ist manchmal unergründlich. Und Julia Wenz wurde mitten hineingezogen. Denn Geld gab es bei ihrem dreimonatigen Stipendium in Straßburg nur, nachdem sie eine Bedingung erfüllte. Sie musste für alles, was sie dort konsumierte, die Rechnungen sammeln und bei der Verwaltung abgeben. Schön geordnet natürlich. Jeder Monat wurde exakt erfasst. Die Künstlerin Julia Wenz trat zurück und wurde zur gläsernen Konsumentin. Eine seltsame Erfahrung, die Julia Wenz gewohnt hintergründig in Kunst verwandelt hat.

So zeigt ein Stadtplan von Straßburg ihr Bewegungsmuster beim Einkaufen. Sie sehen ihn hier in der Graphothek. Die ausgeschnittenen Zwischenräume lassen die Sträßchen und Gassen in ihrem Haupt-Shopping-Revier plastisch hervortreten. Dort wuselte Julia Wenz, wie von einer riesigen Registrierkasse aus dem All beobachtet, zwischen den Läden hin und her. Rote Ortungspunkte markieren die Stellen, an denen Julia Wenz am meisten konsumiert hat.

Die Registrierkasse klingelt. Das tat sie auch vor rund 150 Jahren. Und zwar als ein junger Franzose, genannt Le Jeune, akribisch in einem Büchlein seine Einnahmen und Ausgaben festhielt. Gefunden hat Julia Wenz das Bändchen mit Ledereinband auf einem Flohmarkt, in einem kleinen Ort an der Loire. Sie sehen das Buch draußen in der Vitrine liegen, einen Blick ins Innere können Sie hier auf dem Bildschirm werfen. Wer Le Jeune war, welchen Beruf er ausübte, was er wo machte, erschließt sich aus seinen Aufzeichnungen nicht. Julia Wenz wollte sich dem unbekannten Buchhalter in Straßburg künstlerisch nähern. Und wurde plötzlich, mit ihren Kassenzetteln und Quittungen, die sie sammeln musste, dem mysteriösen Le Jeune immer ähnlicher. Im Zahlenrastern erfasst, in Bilanzkonten gefangen, von Debitoren und Kreditoren umzingelt.

Ein kreisrundes Tortendiagramm wird zur Welt, in der sich Julia Wenz jetzt bewegt. Sie sehen es beim Eingang zur Cafeteria. Jeden Monat ihres Straßburg-Stipendiums stellt sie als Tortendiagramm dar, in dem sie ihre Konsumbewegungen „Per Diems“, also pro Tag, als kleine Kuchenstückchen markiert. Doch die Grafik hat sie nicht wie heute allgemein üblich mit ein paar Mausklicks in Word angefertigt, sondern als aufwendigen Holzschnitt.

Eine traditionelle, künstlerische Technik wendet sie auch bei der benachbarten Arbeit an – die Lithografie. Das ist ein Steindruck, von altgriechisch „lithos“ (Stein) und „grafeïn“ (schreiben). Lithografie ist eng mit der Plakatkunst und der Werbung verbandelt. Einen der bekanntesten Lithographen kennen Sie alle, es ist der Künstler Henry de Toulouse-Lautrec, der um 1890 Werbeplakate für das Moulin Rouge und andere Pariser Etablissements gestaltet hat.

Ausgangsmaterial ist bei Julia Wenz eine ganz profane Quittung auf Thermopapier. Ähnlich wie Andy Warhol greift sie sich ein Konsumobjekt, vergrößert es und stellt es in einen Kunstraum. Doch anders als der Pop-Art-Künstler Warhol, der Suppendosen und Seifenkartons unkommentiert aufgeblasen hat, gibt Julia Wenz ihren Objekten eine neue Bedeutung. So schwärzt sie Stellen, zensiert also, macht unsichtbar, was sich hinter der Rechnung verbirgt. Übrig geblieben ist nur der Schriftzug der „Happy Points“, also Treuepunkte, die von der Supermarktkette Simply vergeben wurden. Die Summe dieser Punkte ist als „Total Happy“ zu lesen. Und wirft die Frage auf, ob das Sammeln dieser Happypunkte einen wirklich total happy macht – oder eher zum gehetzten, unglücklichen Schnäppchenjäger. Vielleicht weiß der mit Happy Points und Rabattmarken überzogene Buddha im Bereich zwischen den Büchern eine Antwort.

Auch bei den Karton-Objekten, die Sie hier in der Graphothek sehen, lässt uns Julia Wenz grübeln, welche Waren dort einmal verpackt waren. Mit Tusche schwärzt sie Werbeaufdrucke und -motive. Farbe schlurft über die zum Kaufen animierenden Bilder – als würde sich eine teergeschwängerte Raucherlunge über eine malerische Marlboro-Landschaft legen. Anstatt den Werbeversprechen auf den Leim zu gehen, schlägt Julia Wenz mit Farbe zurück. Kunst frisst Konsum.

Im Vergleich zu den heutigen Konsumverlockungen in Megastores, Kaufhaus-Ketten und Internet-Portalen, wirken Le Jeunes Aufzeichnungen geradezu bescheiden. Mehrere Jahre an Einnahmen und Ausgaben passen in das schlanke Büchlein, während wir heute Aktenordner mit unseren Quittungen füllen. Weil reparieren zu teuer und umändern oder flicken out ist, brauchen wir immer neue Smartphones, i-Books, tragbare Multifunktions-CD/DVD Player mit MP3 & Radio, Digitalkameras PowerShot SX 240 HS mit 12 Megapixeln, wir brauchen trendige Fashion, coole Outfits und das natürlich von angesagten Labels. Unsere Marketingsprache ist international und wir produzieren Riesenberge an Abfall und Verpackungsmüll. Über eine Million Tonnen Textilien werfen die Deutschen jedes Jahr in den Altkleidercontainer oder den Hausmüll. Etwas, worüber Le Jeune anno 1826 sicher nur staunen könnte.

Der älteste Konsumtempel der Welt steht zwar in Frankreich, doch er öffnete erst 1852 seine Pforten. Es ist das Kaufhaus Le Bon Marché in der Rue de Sèvres in Paris. Und noch um 1887 wirken buchhalterische Einträge recht überschaubar. Ich habe hier ein Büchlein, das ich selbst auf dem Flohmarkt gefunden habe. Es heißt „Vollständiger Universal-Briefsteller oder der schriftliche Verkehr in den gewöhnlichen Verhältnissen des Privat- und Geschäftslebens“. Im Kapitel „Buchführung“ (S. 144) notiert eine Hausfrau, was sie Anfang April 1887 ausgegeben hat:

Dem Sohne Karl einen Hut bei Votteler: 3 Mark 30
Der Tochter Marie 8 m Kasimier (Wollstoff) zu einem Kleid: 17 Mark 60
2 Raummeter Buchenholz: 20 Mark
Zucker, Kaffee und Kochgerste: 2 Mark 30
Schulgeld für Fritz: 2 Mark
1 paar Hausschuh meinem Mann: 5 Mark
Für die Mission: 50 Pfennig.

Was sagen Buchhaltungs-Einträge über eine Familie, eine Person aus? Julia Wenz hat ihren Prüfern auf jeden Fall kräftig dazwischengefunkt. Ihre Quittungen hat sie gefaltet und durchbohrt bei der Verwaltung abgegeben. Und aus Preisschildern, Kontrollmarken und Rechnungen kleine Skulpturen geformt. Sie sehen Sie in der Vitrine neben Le Jeunes Bändchen. Aufgespießt sind diese Artefakte des Konsums wie Käfer im Naturkundemuseum. Würde Le Jeune sie finden, würde er genau so rätseln wie wir beim Blick in sein Rechnungsbuch.

Ich bedanke mich fürs Zuhören und wünsche Ihnen jetzt viel Spaß bei der Ausstellung von Julia Wenz!